Ich kann's, ich kann's nicht mehr ertragen,
Dies artige geleckte Sagen,
Dies kluge Reden, süße Blicken -
Dies Lachen, Rufen, Köpfenicken.
Dies Wörter- und Gedankenschniegeln,
Dies eitle Sich-im-Nachbar-Spiegeln,
Dies ganze falsche hohle Treiben -
Nein, lasst uns bei uns selber bleiben.
Christian Morgenstern
(1871-1914)
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Selbstgespräche
O, ihr wisst wundergut, was Leben heißt.
Ihr ehlicht, zeugt, genießt, arbeitet, sterbt.
Wie ein Gesetz ist euch das vorgekeilt,
und ihr erfüllt's.
Ich ungewisser Geist,
ich hab noch immer leben nicht gelernt,
mir bleibt das Leben ewig fremd und neu.
Ich hab zu viel zerdacht, zu viel entthront.
Christian Morgenstern
(1871-1914)
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Hört von mir, was wenig wissen,
hört's und denket nach dabei:
Dass, wenn zwei sich zärtlich küssen,
gern sich sehn und ungern missen,
es nicht stets aus Liebe sei.
Johann Wolfgang von Goethe
(1749-1832)
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Schneller, immer schneller
Es dreht sich! Es dreht sich!
Alles rotiert, wo bin ich, was tue ich?
Kein Halten, kein Stopp, kein Ich-weiß-nicht-was.
Es dreht sich, ich drehe mich,
Ich sehe Menschen, Köpfe, Nasen,
Glatzen, Ohren, Haare, alles, alles, alles!
Koffer, ich sehe Koffer -
"Wohin soll sie gehen, die Reise, wohin?"
Kein Aus, kein Halten,
Wer fängt mich auf, wenn ich falle?
Mir wird schwindelig, ich drehe mich,
Kein Halten mehr, es dreht sich.
Ein Karussell, ja, wie ein Karussell,
Und Musik, laute Musik.
Was soll ich tun, wo soll ich hin?
Es hört nicht auf, sich zu drehen,
Es wird bloß schneller, immer schneller,
Wie spät ist es, wo bin ich, was tue ich?
Es dreht, es dreht sich,
Das Leben, das Rad des Lebens, es dreht sich,
Die Zeit, sie rennt, Die Erde dreht sich!
Was soll ich tun?
Dort drüben, dort steht die Antwort:
Carpe diem!
unbekannt
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Ein jeder Tag ist Keim und Blüth',
Im Schaffensdasein, im Gemüth.
Versäumter Tag macht alt und schwer,
Vergraut des Morgens Wiederkehr.
Nur was dir rüstig am Tage gelang
Bringt dem Morgen festlichen Empfang.
Otto Roquette (1824-1896)